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Schreiben, aber wie?

Kleines Dissertations-ABC: C wie Chaos

Chaos verhindern um jeden Preis? Nicht unbedingt…

In meinen Kursen beklagen Doktorierende nicht selten das Chaos, mit dem sie sich Tag ein Tag aus konfrontiert sehen: „Mein Arbeitsprozess ist viel zu chaotisch“, „Mein Dissertationsmanuskript ist völlig unsortiert“ sagen sie dann, oft im Ton der Selbstbezichtigung. Dahinter steckt eine meist unausgesprochene Annahme: Chaos, so denken sie, ist immer schlecht und muss um jeden Preis verhindert werden. Das stimmt aber nur so halb. Natürlich kann Unordnung in einem so langen Prozess ein Problem sein. Das eigene Chaos kann viel Zeit kosten – im schlimmsten Fall reden wir über zahlreiche Wochen oder sogar Monate. Aber zugleich ist die richtige Dosis Chaos für viele Schreibende etwas sehr Wichtiges. Für Promovierende kann es also zentral sein zu lernen, wie man Chaos in Maßen zulässt, anstatt es (komme was wolle) zu verhindern.

Hilfreiches Chaos

Ich will mir hier erstmal anschauen, warum Chaos so hilfreich sein kann, bevor ich auf die problematischen Formen und unliebsamen Konsequenzen von Chaos eingehe:

Chaos lässt Raum für Widersprüche – Das klingt erstmal nicht nach einem Vorteil. Schließlich sollen Arbeiten doch möglichst widerspruchsfrei sein. Das stimmt natürlich, gilt aber nur für das Endprodukt und nicht für die zahlreichen Zwischenschritte auf dem Weg dahin – die Fassungen des Dissertationsmanuskripts also, die sowieso niemand sonst zu sehen bekommt. Und hier können Widersprüche tatsächlich äußerst wertvoll sein. Sie machen uns aufmerksam auf Probleme, die wir vielleicht bei der Planung der einzelnen Kapitel nicht gesehen haben. Sie zeigen Fehler und Ungenauigkeiten in unserem Denken auf, und sie weisen uns darauf hin, dass die Sachlage vielleicht einfach ein bisschen komplizierter ist als ursprünglich angenommen. Wer allzu viel Angst vor Chaos hat, der bügelt diese wichtigen Widersprüche einfach glatt, anstatt zu fragen, was wohl dahinterstecken mag, und beraubt sich damit einer wichtigen Erkenntnisquelle.

Chaos ermöglicht Kreativität – interessante wissenschaftliche Ideen kommen nicht selten gerade durch eine gewisse Unordnung zustande. Kreativität besteht schließlich auch darin, dass Gedanken aus unterschiedlichen Bereichen zusammengebracht werden. Wer Chaos zulässt, ermöglicht oft solche ungewöhnlichen Kombinationen und schafft Raum für neue Einfälle.

Chaos kann beflügeln – Wer bewusst Chaos zulässt, ist weniger perfektionistisch und kommt dementsprechend beim Rohtext schreiben häufig schneller voran. Das muss nicht immer besser sein, ist es aber oft. Denn wer es schafft, recht zügig etwas Chaotisch-Unperfektes zu Papier zu bringen, der oder die wird meist auch irgendwann fertig mit dem Projekt. Natürlich muss dann Zeit eingeplant werden, um Ordnung zu schaffen – aber oft geht das leichter und schneller, als sich von Beginn an akribisch an den vorab entworfenen Plan zu halten.

Nicht jede Form von Chaos ist hilfreich

Chaos aushalten zu können, hat also Vorteile. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass Chaos immer und unter allen Umständen gut ist. Unordnung in extremer Ausprägung kann auch negative Folgen haben:

Chaos kann lähmen – Wer kennt das nicht. Auf dem Schreibtisch türmen sich Kopien und Bücher aus der Bibliothek, die irgendwie in irgendeiner Reihenfolge wohl irgendwann mal gelesen werden müssten, weil sie ja schon irgendwie mit dem Thema zusammenhängen. Aber anfangen mag man trotzdem nicht so recht. Der Stapel ist zu groß, die nächsten Schritte viel zu unklar. Man weiß schlicht nicht, was man tun soll, und tut deshalb am besten erstmal nichts. Diese Art von Chaos ist wenig hilfreich und sollte deshalb möglichst zügig behoben werden. Am einfachsten geht das, indem man einen eher kleinschrittigen Arbeitsplan erstellt, der hilft, wieder ins Tun zu kommen.

Chaos kann Zeit fressen – Von wem stammt noch gleich das wunderbare Zitat, das man in Kapitel 2 einbauen wollte? Und woher bekommt man nun die fehlende Seitenzahl für den Literaturverweis in Kapitel 3? Chaos in den eigenen Notizen kann nervig sein und viel, viel Zeit kosten. Deshalb ist es gut, sich möglichst früh ein funktionierendes Ablagesystem für die eigenen Notizen zu überlegen. Citavi, Excel und der ein oder andere Aktenordner machen es möglich. Allerdings muss man sich auch klar machen, dass es das perfekte System vermutlich gar nicht gibt (oder falls doch, ist es mir bisher entgangen). Nachrecherchieren oder einen Text zum x-ten mal lesen, ist einfach Teil des akademischen Geschäfts und selbst die größten Ordnungsliebhaber:innen kommen nicht ganz drum herum.

Chaos erschwert das Feedback-Einholen – „Zeig mir doch ruhig einmal ein Kapitel“, „Stell doch mal etwas im Kolloquium vor“. Diese Vorschläge sind gut gemeint und wichtig, aber sie treiben denjenigen, die gerade ohnehin in einer chaotischen Phase stecken, oft den kalten Schweiß auf die Stirn. Wie soll man etwas besprechen oder herzeigen, was noch so gar keine rechte Form hat? Für viele Zusammenhänge im universitären Kontext gilt: am besten gar nicht. Chaotische Erstentwürfe kann man sicherlich in der ein oder anderen Schreibgruppe vorzeigen, im Institutskolloquium aber eher nicht (auch wenn es sinnvoll wäre). Hier ist es oft einfach besser abzuwarten, bis sich das größte Chaos gelichtet hat und dann erst Feedback einzuholen.

Gänzlich verhindern lässt sich Chaos beim Promovieren kaum. Wie viel Unordnung wir zulassen sollten, hat (wie Joan Bolker in ihrem tollen Buch zum Dissertationsschreiben aufzeigt) auch sehr viel mit unserem eigenen Temperament und unseren Arbeitsgewohnheiten zu tun. Wichtig ist eben auch, dass Chaos nicht per se ein Problem sein muss. Die Arbeit des Schreibenden besteht vielmehr darin zu erkennen, ob es sich um eine produktive Form von Chaos handelt oder um lähmende, unproduktive Unordnung. Das (und nicht irgendwelche vorgefertigten Ideen darüber, wie der ideale Schreibprozess nun aussieht) sollte der Maßstab für uns sein.

Literaturtipps zu C wie Chaos:

– Joan Bolker, Writing Your Dissertation in Fifteen Minutes a Day. A Guide to Starting, Revising, and Finishing Your Doctoral Thesis, Henry Holt 1998.

Was für ein Versprechen! Und natürlich hat Bolker recht. 15 Minuten am Tag sind zwar tatsächlich ein bisschen wenig, aber auch diejenigen, die nur ein kleines Fitzelchen Zeit investieren werden (irgendwann) mit ihrer Dissertation fertig sein. Aber auch zum Thema Chaos und Ordnung hat Bolker hilfreiche Beobachtungen zu Papier gebracht. Wunderbar ist, dass sie keine Patentrezepte für alle bereit hält, sondern vielmehr Fragen und Beispiele anführt, die uns Schreibenden helfen, selbst ein Gespür dafür zu entwickeln, wie viel Chaos wir vertragen.  

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