„Früh mit dem Schreiben anfangen“ ist ein Tipp, der sich in fast jedem Ratgeber zum Verfassen von Dissertationen findet. Früh anfangen ist natürlich immer fein – aber was heißt denn „früh“? Ist es sinnvoll, mit dem Schreiben einer Dissertation anzufangen, wenn nicht einmal das Inhaltsverzeichnis (so halbwegs) steht? Vertut man nicht einfach massig Zeit mit dem Abfassen von Texten, die dann doch nicht ihren Weg ins Buch oder in den Artikel finden? Und führt das oft nicht einfach nur zu Frust?
Erst Denken, dann Schreiben. So lautet ein zweiter Tipp, den man häufig im wissenschaftlichen Umfeld hört. Erst wenn das Inhaltsverzeichnis, das Argument, das Konzept für die Dissertation steht – so die Überlegung –, kann man sinnvollerweise anfangen, das Ganze zu Papier zu bringen. „Ich schreibe meistens nur eine Niederschrift“ hat etwa Hannah Arendt in dem berühmten Interview mit Günter Gaus über ihren Arbeitsprozess gesagt. Auch das suggeriert wieder: Erst wenn man alles wirklich klar, das ganze Material gesammelt und sortiert hat – erst dann sollte man sinnvollerweise mit dem Schreiben beginnen.
Jeder schreibt ein bisschen anders
Was stimmt denn nun? Früh schreiben oder erst, wenn die Struktur steht und alle wichtigen Fragen geklärt sind? Die Antwort ist aus meiner Sicht nicht ganz so einfach, wie die beiden Extrempositionen vermuten lassen. Schreiben ist ein sehr individueller Prozess, der viel mit der eigenen Schreibbiographie, dem Thema und den Schreibgewohnheiten zu tun hat. Es gibt Schreibende, die mehr planen müssen, weil sie der Weg ins Unbekannte mehr stresst als beflügelt, und andere, die fröhlich und ohne jeden Plan ins Blaue hinein schreiben (und die sich durch einen zu genauen Plan eher angebunden als gestützt fühlen). Beides – das Losschreiben und das umfassenden Planen – kann zum Erfolg führen. Ein klares „Richtig“ oder „Falsch“ gibt es hier also nicht.
Aber – und das ist ein großes Aber: Es gibt Schreibstrategien, die für kurze Texte wunderbar funktionieren können, bei langen Texten aber erschreckend oft ins Abseits führen. Dazu gehört der Versuch, den ganzen Text komplett planen zu wollen, bevor man mit dem Schreiben beginnt. Bei 15 oder 20 Seiten geht das noch ganz gut. Bei 150 oder 200 Seiten kommt die Strategie an ihr Ende. Niemand hat so einen Text komplett vor Augen und im Griff. Natürlich kann man Glück haben und man muss den eigenen Plan nur hier und da ein bisschen anpassen. Aber mit etwas Pech hat man zwei Jahre Planungszeit investiert, um dann beim Schreiben festzustellen, dass der wunderschöne Plan gar nicht aufgeht, weil Kapitel 2 & 3 sich widersprechen, Kapitel 4 jetzt doch überflüssig erscheint und Kapitel 5 einen dicken Denkfehler enthält.
Schreiben ist nicht gleich Schreiben
Hannah Arendt hat doch aber auch so gearbeitet… Tja, im Interview behauptet sie das, das stimmt. So ganz der Wahrheit entspricht es allerdings vermutlich nicht. Denn neben vielen Briefen, in denen Arendt auch über ihre Projekte spricht, hat sie auch zahlreiche Hefte hinterlassen, die sie auch als „Denktagebuch“ bezeichnet hat. Hier hat sie prägnante Formulierungen, Zitate und Überlegungen notiert, die oft später in ihre Bücher eingeflossen sind. Das heißt, auch Arendt hat nicht ausschließlich in ihrem Kopf geplant. Sie hat über schon über ihre Themen geschrieben, bevor sie mit der eigentlichen Niederschrift begonnen hat. Nur hat sie das eben nicht direkt in Manuskriptform getan. Vermutlich erwähnt sie es deshalb auch im Interview gar nicht. Sie hat diese kleinen „Fingerübungen“ oder das schriftliche Fixieren von „Denkresultaten“ vermutlich einfach nicht als „echtes Schreiben“ betrachtet.
Früh Anfangen mit dem Schreiben muss also nicht unbedingt bedeuten, dass man schon ein klares Ziel vor Augen hat. Schreiben kann auch zunächst als Denkwerkzeug genutzt werden, um Klarheit darüber zu bekommen, wohin die Reise denn nun gehen soll. Früh Schreiben muss also nicht bedeuten, dass man sofort mit der Arbeit am Manuskript beginnt. Es kann zunächst auch einfach ein Weg hinein in die gedankliche Auseinandersetzung mit einem Thema sein.
„Ja, mach nur einen Plan…“ (Bertolt Brecht)
Aber auch das Losschreiben ohne jeden Plan kann Tücken bergen. Schlimmstenfalls sitzt man am Ende mit einem langen Manuskript ohne jede Struktur und Richtung da. Auch das kann ganz schön belastend sein. Deshalb kann es gerade für diejenigen, die gleich mit dem Schreiben anfangen wollen, wichtig sein, zwischendrin auch immer mal wieder Zeit zum Planen einzubauen. Der Plan selbst ist hier nicht etwas Statisches, das man dann am Ende einfach abarbeitet. Er wächst und ändert sich Stück für Stück während des Schreibens – Planlos ist man aber deshalb trotzdem nicht, und das ist wichtig.
Frühes Schreiben und umfassendes Planen schließen sich also überhaupt nicht aus – und am besten fährt man, wenn man beides zum festen Bestandteil seines Arbeitsprozesses macht.
Literaturtipps zu A wie Anfangen…
- Hannah Arendt, Denktagebuch, Piper 2020.
Nicht nur etwas für Arendt-Fans. Eine schöne Gelegenheit, das Denken und Schreiben dieser wichtigen Philosophin neu zu entdecken. - Peter Elbow, Writing with Power, Oxford University Press 1998.
Der Klassiker der Schreibdidaktik. Ein fantastisches Buch mit einem fantastischen Titel! Elbow bietet wunderbare Schreibprompts an, die einem helfen, früh ins eigene Schreiben einzusteigen, ohne schon unmittelbar mit der Arbeit am Text beginnen zu müssen. Außerdem warnt er eindrücklich davor, ewig zu planen und dann alles in nur einem Wurf zu Papier bringen zu wollen. - Eviatar Zerubavel, The Clockwork Muse: A Practical Guide to Writing Theses, Dissertations, and Books, Harvard University Press 1999.
Zerubavel gewährt uns einen Blick in seine Schreibwerkstatt. Er beginnt sehr früh mit der Arbeit am Manuskript und arbeitet sich dann in mehreren Schleifen durch den ganzen Text. Nach jedem Durchgang passt er auch das Inhaltsverzeichnis und den Gesamtplan an.