Im Rahmen ihrer Promotionszeit müssen sich Doktorandinnen und Doktoranden nicht nur in ein für sie meist neues wissenschaftliches Themenfeld einarbeiten. Vielmehr müssen sie auch ihre Textkompetenz erweitern. In manchen Fällen ist das für alle Beteiligten ohne Probleme erkennbar, weil die Textart für die Promovierenden offenkundig komplett neu ist. Die meisten haben beispielsweise noch nie einen Antragstext geschrieben und sind mit den Gepflogenheiten des Genres nur eingeschränkt vertraut. Hier scheint es offensichtlich, dass Betreuende die Schreibenden unterstützen müssen, etwa indem sie ihnen ausführliche Rückmeldung zu ersten Textentwürfen geben und ihnen erklären, worauf es bei einem solchen Text ankommt.
Neuer Texttyp? Alter Texttyp?
Anders sieht das aber bei der Dissertationsschrift selbst aus. Hier wird bisweilen stillschweigend angenommen, dass die Promovierenden schon wissen, wie ein solcher Text „funktioniert“ und worauf sie achten müssen. Auf den ersten Blick erscheint das auch ganz einleuchtend. Schließlich haben Doktorand:innen und Doktoranden schon eine Masterarbeit geschrieben. Die Anforderungen an eine Doktorarbeit sind natürlich höher, aber man könnte annehmen, dass der Unterschied hier lediglich graduell ist – also, dass es zum Beispiel darum geht, ein noch komplexeres Thema zu behandeln, noch mehr Quellen zu berücksichtigen usw.
Das ist nicht ganz falsch, denn natürlich ist eine Masterarbeit ein wichtiger Zwischenschritt hin zur wissenschaftlichen Eigenständigkeit, bei dem schon viel abgefragt wird, was auch später bei der Promotion eine zentrale Rolle spielt. Und tatsächlich haben Mastarbeiten und Dissertationsschriften ihrer äußeren Form nach einiges gemeinsam. In beiden Fällen geht es zum Beispiel darum, eine wissenschaftliche Frage zu beantworten, Evidenzen für die eigene Position beizubringen usw. Auch äußerlich haben beide viel gemeinsam. Man muss sich nur die Quellenverzeichnisse und Fußnotenapparate anschauen.
Trotzdem gibt es einen weiteren wichtigen Unterschied, den man gerade wegen dieser offenkundigen Ähnlichkeiten schnell aus dem Blick verlieren kann:
Publikum und Funktion
Eine Masterarbeit wendet sich vornehmlich an die Betreuenden. Sie dient primär dazu, diesen zu zeigen, dass der oder die Schreibende bestimmte Kompetenzen erlangt hat. Nun sind die Betreuenden natürlich auch bei einer Dissertationsschrift ein wichtiger Teil des Publikums und auch hier geht es unter anderem darum, bestimmte Fähigkeiten nachzuweisen.
Trotzdem sollte sich eine solche Schrift nicht nur an sie, sondern auch an (andere) Spezialistinnen und Spezialisten im Forschungsfeld wenden. Das Publikum ist hier zugleich weiter als auch enger gefasst als bei der Masterarbeit: weiter gefasst, weil der Personenkreis, um den es hier geht, natürlich sehr viel größer ist; enger gefasst, weil diese Personen alle ein sehr spezifisches Interesse eint. Sie sind in der Regel Teil einer kleinen Gemeinschaft von Forschenden, die zunächst einmal dadurch miteinander verbunden sind, dass sie sich mit bestimmten Fachfragen befassen und (vielfach) ein bestimmtes Set von Methoden anwenden, um diese zu beantworten.
Eine Dissertationsschrift adressiert eine solche Gruppe von Personen. Sie sollte also in der Sprache dieser Community verfasst sein und die spezifischen Erwartungen bedienen, die diese Community an einen wissenschaftlichen Text stellt. Das bedeutet aber auch, dass sich Promovierende mit diesen Genre-Erwartungen und Gepflogenheiten auseinandersetzen sollten.
Daraus ergeben sich zwei Aufgaben für Doktorandinnen und Doktoranden: Zum einen sollten sie sich klar darüber werden, welche Community von Forscherinnen und Forschern sie eigentlich mit ihrer Arbeit adressieren wollen. An wen richtet sich ihre Promotionsschrift und warum sollten diese Personen sich dafür interessieren? Zum anderen ist es lohnend, sich die Texte, die in dieser Community in den letzten Jahren publiziert worden sind, genauer anzuschauen. Wie sind diese Texte aufgebaut? Welches Vokabular und welche rhetorischen Strategien werden verwendet? Gerade diese Strategien können sich von Fachcommunity zu Fachcommunity gewaltig unterscheiden: In manchen Gruppen wird Kritik an anderen Positionen zum Beispiel sehr direkt und unverblümt geäußert, in anderen wird so etwas viel vorsichtiger formuliert.
Es geht hier nicht darum, Erwartungen immer und fraglos zu akzeptieren und zu bedienen. Natürlich kann es interessant sein, einen Text einmal ganz anders zu schreiben oder ganz neue Überlegungen in ein Feld einzubringen. Aber dieses Brechen mit Konventionen sollte bewusst und mit einem klaren Ziel passieren. Auch hier sollte der Autorin oder dem Autor klar sein, warum sie oder er mit den Konventionen bricht und inwiefern genau das den Text für die Fachcommunity wertvoller macht als ein konventionellerer Text zum selben Thema. Deshalb ist es wichtig, dass man die impliziten Regeln kennt und weiß, wann (und warum) man sie bricht.
Literatur zu G wie Genre
Swales, John, Genre Analysis: English in Academic and Research Settings, Cambridge University Press 1990.
Swales betrachtet wissenschaftliche Texte aus linguistischer Perspektive und macht dabei auf viele Gepflogenheiten aufmerksam, die einem sonst schnell entgehen. Diese, aber auch seine anderen Bücher, stellen deshalb auch gerade für Nicht-Linguisten eine lohnende Lektüre dar.